Lilian Loke: Auster und Klinge

Kunst ist nicht da, um den Alltag zu dekorieren, Kunst muss ein Messer sein, das du reichst, mit der Klinge voran, die Leute greifen zu, weil es so magisch funkelt, obwohl es ihnen tief ins Fleisch schneidet.

Der Einstieg in ein neues Buch ist oft nicht einfach. Man muss Geduld haben und hoffen, dass der Punkt bald kommt, an dem man sich beim Lesen richtig wohl fühlt und nicht mehr aufhören möchte. Es ist wohl so ähnlich, wie für einen Einbrecher in ein unbekanntes Haus einen Weg zu finden. Und obwohl der Vergleich gerade zu diesem Buch sehr gut passt, hatte ich mit Lilian Lokes neuem Roman überhaupt keine Einstiegsprobleme. Von der ersten bis zur letzten Seite war ich engagiert, hatte Interesse an der Geschichte und an den Charakteren.

Das liegt wahrscheinlich daran, dass Lilian Lokes Schreibstil sehr gut zu meinen Gedankengängen passt. Sie wandert oft innerhalb eines Absatzes oder Satzes in eine andere Zeit ab, fängt in der Gegenwart an, um dann eine mehrere Jahre zurückliegende Erinnerung zu erzählen. Das kann verwirrend sein, ich habe mich dabei jedoch wie zuhause gefühlt.

Auch das Thema hat mich angesprochen. Zwei sehr unterschiedliche Lebenswege kreuzen sich eines Tages in Frankfurt. Victor ist ein Einbrecher, der viele Jahre lang unbestraft davonkam, bis er einmal geschnappt wurde und ins Gefängnis kam. Er hat nun seine Strafe abgesessen und wünscht sich nichts sehnlicher, als seine Frau und Kind zurückzugewinnen und ein Restaurant zu eröffnen. Georg ist Maler, Aktionskünstler, Erbe eines milliardenschweren Fleischunternehmens, der die negative Auswirkungen der Globalisierung nicht tatenlos hinnehmen kann.

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Quelle: pixabay

Als die beiden sich treffen, gründen sie ziemlich schnell eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft (wer würde denn schon einen Einbrecher bei sich einquartieren?). Ihre Beziehung Freundschaft zu nennen wäre zu viel gesagt, aber sie kommen gut miteinander aus – zumindest bis Georg eine ungewöhnliche Bitte hervorbringt. Die beiden schließen einen Pakt, von dem sie beide zu profitieren hoffen.

Dass sich schließlich alles zum Schlechten wendet, liegt vielleicht an der Naivität Georgs, der daran glaubt, dass er mit seinen tollkühnen Aktionen die Augen der Menschen öffnen kann. Er greift Themen der globalisierten Wirtschaft auf: Kinderarbeit, Ausbeutung, Armut und Elend. Er will erreichen, dass die Menschen ihr Verhalten ändern und endlich hinschauen und will nicht wahrhaben, dass seine Provokationen wirkungslos sind. Sind wir tatsächlich so abgestumpft? So faul? So desinteressiert? So egoistisch? Der Roman gibt darauf eine nur halbwegs hoffnungsvolle Antwort.

Der idealistische Georg erinnert mich an mich selbst als Jugendliche, als ich noch an Revolutionen geglaubt habe. Ich war damals überzeugt davon, dass Menschen in der Unterdrückung stark genug sind, ihre Situation zum Guten zu wenden. Ich dachte, dass das Gute immer gewinnen muss, wir brauchen nur Zusammenhalt und Leidenschaft und einen gemeinsamen Willen. Heute glaube ich nicht mehr daran. Nach und nach habe ich gemerkt, dass die Welt anders funktioniert. Dass immer die Recht haben, die über Macht oder Geld (oder meistens beides) verfügen. Und dass man nicht viel dagegen tun kann.

Aber nicht nur in Romanen gibt es Georgs, und eigentlich kann man auch ohne große Aktionen Gutes bewirken. Im Alltag mal ein faires Produkt kaufen, oder Produkte mit weniger Verpackung. Weniger Fleisch essen und auch sonst auf Zutaten achten und im Sinne der Umwelt eine Wahl treffen. Die Liste könnte man noch lange fortsetzen, und wenn ich mir das alles so durch den Kopf gehen lasse, stellt sich heraus, dass ich doch einiges richtig mache. Ob das reicht? Das wird mich auf jeden Fall noch beschäftigen.

Auster und Klinge hat mich zum Nachdenken gebracht, ohne mich belehren zu wollen. Das Lesen hat mir Spaß gemacht, es war spannend und unterhaltend. Ein ziemlich perfektes Buch, ich werde in Zukunft definitiv nach den Büchern von Lilian Loke Ausschau halten.


An dieser Stelle möchte ich mich beim C.H. Beck Verlag ganz herzlich für das Rezensionsexemplar bedanken.
Der erste Satz:

Ein Murmeln aus Dutzenden Mündern erfüllt das Callcenter, während Georg auf seinem Merkblatt herumkritzelt, stets lächeln beim Sprechen, Verständnis zeigen, Essverbot am Platz, Georg zeichnet Herzkranzgefäße, Aorta, Muskelgewebe mit schnellem, fließendem Strich quer über die schnörkellose Computerschrift.

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Impressum:

Autor: Lilian Loke
Titel: Auster und Klinge
Seitenzahl: 313
Verlag: C.H. Beck
Erschienen: 2018
© Verlag C.H. Beck oHG

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