„Das Reich von dieser Welt“ des kubanischen Autors Alejo Carpentier steht auf der Liste der 1000 Bücher, die man in seinem Leben lesen sollte. Mario Vargas Llosa sagte darüber: „Das Reich von dieser Welt ist einer der vollkommensten Romane, die in spanischer Sprache im 20. Jahrhundert geschrieben wurden.“ Und dabei ist das Vorwort, das Carpentier zum Buch geschrieben hat, eigentlich viel berühmter, als der Roman. In diesem formulierte Carpentier seine Gedanken zum „wunderbar Wirklichen“ und legte damit den Grundstein für den magischen Realismus. Seiner Auffassung nach findet sich das „Wunderbare“ (Magie) in Europa nur in der Fantasie von Künstlern, dahingegen ist man in Lateinamerika ständig umgeben davon, es ist Teil der dortigen Realität. Sein Roman soll seiner Aussage nach deshalb auch kein Werk seiner Fantasie sein, sondern lediglich die Nacherzählung von Geschehnissen, die genau so passiert sind.
Der Roman befasst sich mit der Geschichte von Haiti vor, während und nach der Haitianischen Revolution. Die Hauptfigur, die wir ein Leben lang begleiten (auch wenn wir sie oft länger aus den Augen verlieren), ist der Sklave Ti Noel. Er ist noch ein junger Mann bei den ersten Sklavenaufständen, gegen Ende des Romans treffen wir ihn als alten Mann, der zwar frei ist, aber nun für einen ehemaligen Sklaven, der zum König geworden ist (und für sein Verhalten als König kein anderes Vorbild kennt, als die französischen Monarchen des Absolutismus), Zwangsarbeit verrichten muss.
Obwohl sich Carpentier tatsächlich an die historischen Ereignisse und Figuren hält, wäre ohne sein großartiges schriftstellerisches Können diese Geschichte nicht so wunderbar erzählt worden. Er spielt sehr viel mit der Zeit, mal erzählt er von einem einzigen kleinen Ereignis in die Länge gezogen, mal überspringen wir plötzlich viele Jahre, wobei es sich nicht einfach sagen lässt, wie viele Jahre denn genau. Auch mit der Erzählperspektive geht er frei um, Ti Noel ist zwar die Hauptfigur, der Anfang und Ende des Romans miteinander verbindet, wir wissen aber nicht immer, wo er ist und was mit ihm gerade passiert. So zum Beispiel als Napoleon seine Streitkräfte nach Haiti schickt, um die Aufständischen zu bekämpfen, ist plötzlich Pauline Bonaparte unsere Protagonistin. Sie ist die Ehefrau von Charles Victor Emmanuel Leclerc, der diese Streitkräfte anführt. Hier führt Carpentier einen Geniestreich durch, denn wir begegnen weder Leclerc, noch erfahren wir was über die Kämpfe. Wer verweilen mit Pauline auf einer Insel, weit entfernt von der tatsächlichen Aktion. Leclerc stirbt bald an Gelbsucht und Pauline fährt zurück nach Europa. Die Franzosen kämpften zwar erfolgreich, doch ist es ihnen nicht gelungen, ganz Haiti wieder unter französisches Recht zu stellen – also genau wie Pauline haben sie letztendlich nur Verluste zu verbuchen.
Man kann den Roman sicher auch genießen, ohne den historischen Hintergrund zu kennen, aber ich würde hier doch zu einiger Recherche raten (insofern man nicht bereits bestens über Haitis Geschichte Bescheid weiß). Das macht vieles verständlicher und da es eine faszinierende Geschichte ist, macht das Nachlesen Spaß und beleuchtet Ereignisse, die in Hinblick auf alle späteren Kämpfe für Menschenrechte weltweit relevant sind.
Diverses
Meine Bewertung:
Der erste Satz:
Unter den zwanzig Hengsten, die der Schiffskapitän nach Cap Français gebracht hatte – er steckte mit einem normannischen Züchter unter einer Decke -, hatte Ti Noel, ohne zu zögern, den zuverlässigen Zuchthengst mit der runden Kappe gewählt; der würde gut dafür sein, Stuten aufzubessern, die jedesmal kleinere Fohlen warfen.
Impressum:
Autor: Alejo Carpentier
Titel: Das Reich von dieser Welt
Übersetzung aus dem Spanischen: Doris Deinhard
Seitenzahl: 140
Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 2004
© Suhrkamp Verlag