Alan Mikhail: Gottes Schatten

Alan Mikhail Gottes Schatten

Der ideologische Wind, der die weißen Segel der drei Schiffe von Kolumbus füllte, was der wichtigste politische Kampf in der Welt des 15. Jahrhunderts: die Auseinandersetzung zwischen dem katholischen Europa und dem muslimischen Osmanischen Reich. Anders als in fast allen gängigen Versionen der Weltgeschichte behauptet, war nämlich das Osmanische Reich der Grund, warum die Europäer nach Amerika vordrangen.

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Der amerikanische Historiker Alan Mikhail erzählt in seinem Buch die Geschichte vom Beginn der Neuzeit aus einer neuartigen Perspektive. Während das Osmanische Reich immer weiter wächst und an Macht gewinnt, fühlen sich die Katholiken Europas immer mehr bedroht. Sie suchen nach Verbündeten, um gegen das Osmanische Reich anzutreten, und diese vermuten sie in Asien. Ein guter Grund, Richtung Westen in See zu stechen, um die vermeintliche Hilfe über einen anderen, neuen Weg zu erreichen und den Muslimen in den Rücken zu fallen. Gefunden haben Kolumbus und seine Schiffe am Ende zwar was anderes, doch auch weiterhin ging es für sie um die Bekämpfung einer muslimischen Bedrohung.

In „Gottes Schatten“ wird die Geschichte aus der Perspektive des Osmanischen Reichs erzählt, mi Fokus auf dessen wohl erfolgreichsten Sultan, Selim. Der Sultan, der insgesamt nur acht Jahre lang regiert hat, hat sein Reich zum größten der damaligen Welt gemacht und stand kurz davor, nach seinen Siegen im Osten, sich nun nach Westen auszubreiten. Nur sein Tod bereitete dem ein Ende.

Nach ihrem ersten militärischen Sieg bei Bursa herrschten die Osmanen fast sechs Jahrhunderte lang über ein Territorium, auf dem sich heute etwa 33 Staaten befinden.

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Doch anders als für die Christen ging es den Osmanen (mit Ausnahmen, wo sie gegen andere Muslime vorgingen), nicht um einen Glaubenskrieg. Es ging um Macht, und dabei waren auch Minderheiten in ihrem Reich willkommen und durften ihre Religion frei ausüben. Während also die Juden aus Europa vertrieben wurden, fanden sie bei den Osmanen Schutz. Und Christen, die in von Osmanen besetzten Gebieten lebten, hatten keinen Grund, ihre Heimat zu verlassen und mussten auch nicht konvertieren. Ganz anders erging es allen Nicht-Christen zum Beispiel in Spanien mit der Inquisition.

Tatsächlich war das Osmanische Reich de facto der größte christliche Staat des Mittelmeerraums: Der osmanische Sultan hatte mehr christliche Untertanen als der katholische Papst.

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Der Kontrast könnte nicht größer gewesen sein:

Gewalt, Vertreibung, erzwungene Migration, vermehrte Religionskriege, die Ausrottung ganzer Völker in der Dritten Welt und die Zunahme der Sklaverei dominierten die frühneuzeitliche Welt in den Jahrzehnten um das bedeutungsschwere Jahr 1492. In diesem Wirbel von Konflikt, Eroberung und Massensterben wirkte das Osmanische Reich wie das Auge des Sturms – sein kern, war aber dennoch ein Ort von erstaunlicher Ruhe und eine Zuflucht.

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Es ist ein faszinierendes Buch, das man hier in der Hand hält. Alan Mikhail erzählt auf eine spannende Art und Weise über das Leben auf dem Hof des jeweiligen Sultans, über Machtkämpfe und Kriege. Ganz besonders interessant ist der Einblick, den wir in das Leben im Harem des Sultans bekommen. Anders, als man erwartet, geht es hier nicht darum, wie sich der Sultan mit den Frauen in seinem Harem amüsiert. Nur die Sklavinnen des Sultans durften den Sohn gebären, der später zum Sultan wurde. Und jede dieser Frauen durfte nur einen Sohn haben. Der Vater, der amtierende Sultan hielt sich in der Regel von seinen Söhnen fern, die Frauen (oft christliche Sklavinnen) sorgten für deren Erziehung. Dabei wurden auch die Halbbrüder voneinander getrennt gehalten, sodass sie sich, wenn es denn soweit war, als Gegner begegnen konnten im Kampf um den Thron. Rein theoretisch wurde der älteste Sohn zum nächsten Sultan, doch nicht jeder jüngere Bruder ließ sich das gefallen. Und Selim sollte der erste Sultan werden, der nicht nur seine älteren Halbbrüder auf dem Weg zum Sultanat tötete, sondern auch den eigenen Vater.

Was für ein Herrscher wird jemand, der von Kindesbeinen an lernt, dass er nur dann gewinnen (und am Leben bleiben) kann, wenn er seine Brüder und seinen Vater tötet? Einer, der sich im Kampf wohlfühlt, der immer, in jeder Situation strategisch denkt, der überall seine Spione hat und der irgendwann keine Zweifel mehr hat, dass er, wenn er will, über die ganze Welt herrschen kann.

Neben einem Abstecher in das Jahr 1492 und die nachfolgenden Jahrzehnte, wo wir den Spaniern und Portugiesen folgen, erzählt dieses Buch die Geschichte Selims und die Auswirkungen seiner Kämpfe bis auf die heutige Zeit. Eine großartige Lektüre, die nicht nur einen besonderen und tatsächlich ungewohnten Einblick in unsere Geschichte gibt, sondern auch einiges in der Politik unserer Zeit erklärt.


Diverses

Vielen Dank an dieser Stelle an den C.H. Beck Verlag für das Rezensionsexemplar.

Der erste Satz:

An der Grenze zwischen Texas und Mexiko, genau an der Stelle, wo der Rio Grande in den Golf von Mexiko mündet, liegt eine schläfrige Stadt mit dem unwahrscheinlichen Namen Matamoros.

Impressum:

Autor: Alan Mikhail
Titel: Gottes Schatten. Sultan Selim und die Geburt der modernen Welt
Aus dem Englischen: Heike Schlatterer und Helmut Dierlamm
Seitenzahl: 508
Verlag: C.H. Beck
Erschienen: 2021
© Verlag C.H. Beck oHG

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