Hervé Le Tellier: Die Anomalie

Selten liest sich eine Inhaltsangabe so spannend, wie in diesem Fall: „Dasselbe Flugzeug landet zweimal, die Passagiere gibt es doppelt. Was tun, wenn man sich plötzlich selbst gegenübersteht?“ Ein großartiger Plot macht leider noch keinen perfekten Roman, aber Hervé Le Telliers Buch ist trotzdem lesenwert.

Zunächst lernen wir in „Die Anomalie“ die Passagiere des besagten Flugzeigs kennen, zumindest einige von ihnen. Allesamt sind sie an einem Tag im März von Paris nach New York unterwegs. Den Auftakt macht ein Auftragskiller, der mit seinem Doppelleben nicht nur einer der interessantesten Figuren des Romans ist, aber auch derjenige, dessen Reaktion bei einem Zusammentreffen mit sich selbst die meisten Überraschungen verspricht. Nach ihm kommen die weiteren Passagiere, ein Autor, ein Sänger, ein Architekt und seine Geliebte, ein kleines Mädchen… und noch einige. Die Liste ist relativ lang, auf jeden Fall länger, als dass man wirklich jede Figur noch im Kopf behalten könnte. Doch ihre Geschichten sind für sich allesamt interessant, wenn auch in unterschiedlichem Maße.

Daher fiebert man als Leser dem Zeitpunkt entgegen, an dem das Flugzeug endlich ein zweites Mal landet und die Begegnung der einzelnen Personen und der Beantwortung der auf dem Cover gestellten Frage näherbringt. Doch auch nachdem das zweite Flugzeug, einige Monate nach dem ersten, in New York landet (oder zumindest landen will), zögert der Roman den Moment der Gegenüberstellung weiter hinaus. Für mich, die ich Science-Fiction mag, war auch dieser Teil von Interesse, denn hier werden von führenden Wissenschaftlern diverse Theorien entworfen, wie es zu dem Vorfall kommen konnte.

Nach einer langen Einleitung und dem Intermezzo nach der Landung der zweiten Maschine sollte der Höhepunkt des Romans kommen, doch der bleibt leider aus. Es kommt zu den Begegnungen, aber bei so vielen Figuren ist es unvermeidlich, dass praktisch alle zu kurz kommen. Und kaum eine dieser Begegnungen ist wirklich interessant. In den Monaten zwischen der Landung der zwei Flugzeuge gab es bei einigen der Figuren große Verändungen im Leben (sogar Krankheit und Tod), was das aber für ihre zweite Version, ihre Kopie bedeutet, wird viel zu wenig erörtert.

Mich hat der Roman trotz einiger Abstriche gut unterhalten, denn immerhin hält man hier eine einzigartige Geschichte in der Hand. Und erwähnenswert ist auch die Selbstkritik des Autors, der den Schriftsteller im Roman ein Buch über den Vorfall schreiben lässt und diesen dann folgendes denken lässt: „Er hat sich auf nur elf Personen beschränkt und ahnt bereits, oh Gott, dass auch elf schon zu viel sind.“

Vielleicht hört Hervé Le Tellier im nächsten Buch besser auf sich selbst?


Diverses

Der erste Satz:

Jemanden umlegen, das ist noch gar nichts.

Impressum:

Autor: Hervé Le Tellier
Titel: Die Anomalie
Übersetzung aus dem Französischen: Jürgen und Romy Ritte
Seitenzahl: 352
Verlag: Rowohlt
Erschienen: 2021
© Rowohlt Buchverlag

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